Leben aus dem Koffer I

Dämmerung. Es ist kurz vor Tagesanbruch. Der Tag vermag die dicken, kalten Mauern nicht zu durchdringen, und dennoch kommt er, ohne Hoffnung auf die, die er mit der Routine von Millionen von Jahren genährt hat.

‚Welche Tür war das?‘, dachte sie. ‚Welche Tür?‘

Mitten im Flur verharrte sie und zuckte dabei unruhig, bis sie sie fand. War sie erwacht, oder schlief sie noch und war an Gott weiß welch anderem Ort? War sie in dem Fegefeuer des Nichts, der Leere, des Vakuums, wo Momente/Zeiten/Orte sich mischten und ineinander verwoben?

Welche Tür? Wo? Wo diesmal?

Der grässlichste Augenblick dieser Art des Exils  ist der Moment, in dem man erwacht. Ja, es ist exakt dieser Moment!

‚Wo bist du?‘

[…]

In jener Zeit gab es keine Koffer mehr. Zwei Mal wurde sie verhaftet. Die von ihnen für adäquat befundene Anklage lautete: ‚Mitglied einer staatsfeindlichen  Organisation, Mitglied der Führungsspitze der Organisation‘. Aufgrund interner Querelen vermochte der Staat den Fall nicht zum Abschluss zu bringen. Es gelang ihnen einfach nicht, einen Beleg zu fabrizieren. Alle Abhörprotokolle betrafen Gespräche über Themen der Kategorie ‚kein Wettbewerb, sondern Solidarität; Wandel durch gegenseitiges Verstehen; Leben nicht als Konsumgesellschaft, sondern ohne der Natur zu schaden; radikale Demokratie’. Das gefährlichste handelte vom ‚Ende der Aufrüstungs- und Sicherheitspolitiken der von Männern dominierten Welt; von einer Welt ohne Grenzen, einer Gesellschaft ohne Staat, der Selbstverteidigung ohne Armee …‘, also vom Frieden. Daraus hätten die Machthaberlange Haftstrafen für sie produzieren können, wie sie es für viele ihrer Freunde getan hatten, doch genau in jener Phase verwandelten sich deren bislang freundschaftlich gesinnten Machtgefährten zu Widersachern. Das dabei entstehende Vakuum führte sie in Länder, an die sie nicht im Geringsten gedacht hatte.

[…]

Was ich mit ansehen musste, ist wie eine nicht heilen wollende Entzündung. Sie nagt an allen Zellen, lässt einen entkräftet in heftigem Fieber zurück. Rebellion ist die einzige Medizin. Hoffen die Herrschenden letzten Endes nicht deswegen die Lösung darin zu finden, dich in vier Wände zu pferchen und im Delir, dir deine Rebellion gestohlen zu haben, dich mitansehen zu lassen, was sie den dir geliebten Menschen antun? Ist das Land am Ende nicht zu einem Freiluftgefängnis, einer Freiluftfolterkammer geworden?

Wovon sie sich gedanklich gelöst hatte, löste sie sich schließlich vollständig …

Wieder fror sie … Überall unterwegs fror sie. Sie fror unter der Sonne, sie fror in der warmen Luft des Meltemi. Sie fror in der Julihitze. Sie fror in der Kälte all der Jahre.

Aus: Vom Tagebuch einer Einsiedlerin zum Tagebuch einer Geflüchteten (2017), übersetzt aus dem Türkischen von Monika Demirel